Leseprobe Businessbonbons
| Bonbon Nr. 23: Reorganisation | |
Ich ließ meinen Dienstwagen und einen angenehmen Frühlingsvormittag auf dem Besucherparkplatz zurück und betrat den kühlen, ehrfurchtgebietenden Büroturm unserer Muttergesellschaft.
Schon zum zweiten Mal in diesem Monat. Als Stratege musste ich nicht nur das Marktgeschehen im Blick haben, sondern auch die internen Trends. Vor allem die Trends in der Konzernzentrale. Schon manche gute Strategie – und mit ihr der Stratege - war noch auf dem Reißbrett verendet, weil ihr Verfasser die Zeichen aus der Zentrale falsch gedeutet hatte. Man denke nur an die Kollegen bei Nokia in ihren Gummistiefeln!
Also besuchte ich regelmäßig wichtige Leute in der Zentrale.
Trotzdem musste ich mich einen Moment orientieren. Zum einen, weil mich die eisgekühlte Luft der Klimaanlage wie eine Winterfaust ins Gesicht traf und mir den Atem verschlug. Zum anderen, weil hier ständig umorganisiert wurde, und ich mir deshalb auf der großen Übersichtstafel neben dem Empfang erst mal klar werden musste, in welches Stockwerk ich wollte.
Ah, da hatten wir’s doch schon. Strategisches Marketing, siebte Etage.
In der Halle standen drei Aufzüge zur Verfügung. Zwei davon waren gerade auf ‚Sonderfahrt’, was immer das bedeuten mochte. Der dritte nahm mich nach etlichen Minuten Wartezeit mit nach oben. Es schien viel los zu sein, obwohl keine Menschenseele zu sehen war. Die Aufzugkabine glitzerte wie eine überdimensionale Kühlbox; wenigstens blieben die Mitarbeiter und ihre Ideen hier schön frisch.
Im siebten Stock angekommen, schlug ich den Kragen meines Sakkos hoch und machte mich auf die Suche nach meinen Gesprächspartnern. Gar nicht so einfach, denn auf dem gesamten Stockwerk hatte man die Türschilder abgeschraubt. So viel Understatement passte eigentlich nicht zu meinen Marketing-Kollegen.
„O que você está fazendo aqui?“ - oder so ähnlich. Ein südländischer Typ kam aus einem offenen Büro auch mich zu. Er war ziemlich lässig gekleidet und hatte so ein kleines Spitzbärtchen. Konnte durchaus ein Marketingmensch sein.
„Ich suche Dr. Heimerl und Dr. Manski vom strategischen Marketing“, lächelte ich den Mann an.
„Eu não entendo uma palavra. O quê?“
Ich verstand kein Wort. Hatte die Outsourcing-Welle jetzt schon das Marketing erreicht?
Der Spitzbart holte zwei Schraubenzieher aus seiner Gesäßtasche und machte sich am nächsten Türschild zu schaffen. Mit brachialer Gewalt sprengte er das Schild samt Halterung aus der Wandverankerung und warf es achtlos auf den Boden. Auf den zweiten Blick vielleicht doch kein Marketingmensch.
Ich fuhr mit dem Aufzug wieder nach unten, um einen neuen Anlauf zu starten.
„Louco alemão...“, brummelte mir Spitzbart gereizt hinterher.
Der Hühne am Empfangstresen musterte mich abschätzend.
„Что вы хотите?“
War das hier versteckte Kamera, oder was?
„Entschuldigung“, räusperte sich das Muskelgebirge in diesem Moment mit russischem Akzent. „Was wünschen Sie?“
Ich war noch nicht ganz überzeugt, was die Kamera anging. Zumal der Russe zur Diensthose ein kurzärmliges, weißes T-Shirt trug, während sich auf meinen Augenbrauen Raureif bildete.
„Ich suche das Strategische Marketing“, sagte ich, als wäre nichts weiter. Ich würde mir jetzt keine Blöße geben.
„Hmmm...“, der Russe konsultierte seinen Computer.
„Kann ich kein Strategisches Marketing finden“, teilte er mir mit.
„Aber da steht es doch“, deutete ich auf die große Hinweistafel hinter mir. „Im siebten Stock ist es bloß nicht mehr.“
„Ach das...“, lachte der Russe. „Das schon alt. Von letzte Woche.“
„Ahh...“, sagte ich verwirrt. So alt fand ich das gar nicht.
„Schauen Sie doch mal nach Dr. Heimerl und Dr. Manski“, startete ich einen neuen Anlauf. Man hätte einen Ex-Stasi-Mann auf den Job setzen sollen. Der hätte sicher besser über die Kollegen Bescheid gewusst.
Wladimir konsultierte wieder seinen Computer.
„Warum sagen Sie nicht gleich? Arbeiten jetzt für Customer Research Operations. Zwölfter Stock.“
Ich dankte wortlos und machte mich wieder auf den Weg.
Im zwölften Stock herrschte geschäftiges Treiben. Das war schon mal ein Fortschritt. Überall standen offene Umzugskisten, Unterlagen wurden in Schränke geräumt, Assistentinnen eilten aktenbeladen den Gang entlang.
„Customer Research Operations?“, fragte ich eine im Vorbeigehen.
„Nö, hier ist Field Operations Research. Vielleicht weiter hinten…“ Schon war die Wolke aus Parfüm, Edding und Kopierpapierduft an mir vorbeigerauscht.
Ich ging weiter.
„Customer Research Operations?“ Ich steckte meinen Kopf in eine Kaffeeküche, wo gerade eine grazile Rothaarige eine Tasse Tee vor sich auf dem Stehtisch abgestellt hatte.
„Customer Research Operations…“, wiederholte sie mit der Eleganz eines Native Speakers, wobei sie das ‚R‘ ausdrucksstark rollte, „…arbeiten da nicht Dr. Heimerl und Dr. Manski?“
„Genau die suche ich!“, rief ich. Endlich! Ich war kurz vor dem Ziel.
„Die haben ein Büro gleich hier um die Ecke“, teilte mir die sommersprossige Stupsnase mit und nahm einen Schluck Tee.
„Großartig!“ Ich lächelte. Die Frau gefiel mir.
„Sie glauben ja gar nicht, wie schwer es ist, die beiden aufzustöbern“, sagte ich. „Ich werde gleich mal reinschauen.“
„Oh…“, die Stupsnase kräuselte sich kurz. „Da sind Sie leider ein paar Minuten zu spät. Die beiden haben sich gerade verabschiedet.“
„Verabschiedet?!“
„Tja, sind wohl schon wieder versetzt worden. Irgendeine Task Force im Sales-Bereich. Supereilige Sache.“
„Und Sie wissen nicht zufällig, wo diese Task Force sitzt?“, klammerte ich mich an die einzige heiße Spur, die ich hatte.
„Leider nein“, meinte meine irische Freundin betrübt.
„Aber – fragen Sie doch mal beim Empfang nach, die müssten das wissen!“
Ich lächelte gequält, falls doch irgendwo Kameras waren und marschierte zurück zum Aufzug. Als der nach einer gefühlten Ewigkeit im Erdgeschoss ankam, dämmerte es bereits.
Die Kälte begrüßte mich freudig wie einen alten Bekannten. Aber keine Spur von meinem russischen Agenten-Freund, um ihm die Ohren lang zu ziehen. Wo bislang der Empfangstresen stand, gähnten nur noch leere Verankerungen und Kabelschächte im Boden.
„Empfang jetzt da“, deutete eine polnische Putzfrau hilfsbereit auf eine silberfarbige Gegensprechanlage neben dem Haupteingang.
Ein perfektes Chaos ist auch etwas Vollkommenes. Ich drückte den silbernen Knopf.
„Sie wünschen?“, meldete sich eine fröhliche Stimme mit ungarischem Akzent. Seit meinem letzen Besuch im Erdgeschoss hatte sich das Outsourcing-Karussell offenbar erneut gedreht.
„Ich… ach, vergessen Sie’s!“
Für heute hatte ich genug. Ich eilte zur Drehtür, nur um schwungvoll mit der Nase gegen die Glasscheibe zu klatschen. Die Tür bewegte sich keinen Millimeter.
Ich drückte wie ein Verrückter auf dem silbernen Knopf herum.
„Sie wünschen?“, meldete sich eine nicht mehr ganz so fröhliche Stimme.
„Ich möchte zu meinem Auto. Würden Sie bitte die Tür öffnen?“.
„Einen Moment bitte“. Nichts geschah.
„Wenn Sie jetzt nicht sofort diese verdammte Tür öffnen…“
„Ich nehme das gerne für Sie auf“, meldete sich die Stimme leicht angesäuert.
„Was??“
„Es scheint da ein technisches Problem mit der Tür zu geben. Ich nehme ein Ticket auf und leite es an die Kollegen vom Technischen Management weiter. Ihr Anliegen wird so schnell wie möglich bearbeitet.“
Ich atmete ganz tief aus und dachte nach.
„Und… wie schnell… ist das so?“, wollte ich wissen.
„Das Ticket geht von hier direkt nach Tschechien, die prüfen das Ganze und schicken bei Bedarf einen Techniker direkt zu Ihnen raus. Das sollte maximal 48 Stunden dauern“, ließ mich die Stimme wissen, nicht ohne einen gewissen Stolz ob dieses umfangreichen und ausgeklügelten Service-Pakets.
„Das ist… wunderbar“, hauchte ich in die Leitung nach Budapest und löste meinen festgefrorenen Zeigefinger vom Sprechknopf, wobei ein kleiner Fetzen Haut als Andenken zurückblieb.
Vielleicht sollte ich meine Besuche in der Zentrale wieder etwas reduzieren.